Zweiter Vortrag des Kolloquiums im Wintersemester 2020/21: Psychologie (in) der DDR

Seit den späten 1960er Jahren entwickelten Sozialpsychologen der Universitäten Jena und Leipzig ein gruppenbasiertes psychologisches Training für Führungskader in der Industrie, Partei, Verwaltung und Bildungseinrichtungen der DDR. Die Trainings fanden im intensiven Internatslehrgang und über einen Zeitraum von bis zu drei Wochen statt. Im Zentrum standen die Selbsterfahrung und Perfektionierung des sozialistischen Leiters (die sozialistische Leiterin war mitgemeint) im Rahmen von gruppendynamischen Rollenspielen. Im Vollzug wurde Wert gelegt auf spontanen Ausdruck der Gefühle, authentisches Feedback der Gruppenmitglieder, gegenseitiges Verstehen und Empathie; was in der Gruppe geschah, sollte nicht nach außen dringen. Trainer:innen erinnern sich an ihren damaligen Anspruch, mit dem sozialpsychologischen Training hierarchische Führungskulturen aufzubrechen, die menschlichen Beziehungen zu humanisieren und zu demokratisieren. Gegenüber dem Staat wurde das Training freilich auch als gezielte Verhaltensmodifikation gerechtfertigt: Leitungskader sollten systematisch zur effizienteren Führung der Bevölkerung angeleitet werden und letztendlich zur Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität der DDR beitragen.

Das im Vortrag vorgestellte Projekt möchte die Vielschichtigkeit des Phänomens des sozialpsychologischen Kadertrainings untersuchen. Dabei schaut es auch über die DDR als Bezugsrahmen hinaus. Kaum bekannt ist beispielsweise, dass die im sozialpsychologischen Training eingesetzten Methoden westlich des ‚Eisernen Vorhangs‘ emphatisch als Technologien der Freiheit (USA) oder der Selbst-Demokratisierung (BRD) propagiert wurden. Hatten die als Reisekader bestätigten Doyens des Trainings Kontakt zu einschlägigen westlichen Vertreter:innen der entsprechenden Psychotechniken? Wie lässt sich deren Verbreitung in der DDR trotz der liberal-demokratischen und individualistischen Obertöne im Westen erklären?

Zur Vortragenden:
Dr. Verena Lehmbrock ist Postdoc an der Professur für Wissenschaftsgeschichte der Universität Erfurt und Gründungsmitglied des Forums Geschichte der Humanwissenschaften im Rahmen der GWMT – Gesellschaft für Geschichte der Wissenschaften, Medizin und Technik. M.A. Neuere/Neueste Geschichte und Philosophie sowie Promotion Wissenschaftsgeschichte in Berlin (HU/TU), nebenberuflich Studium B.Sc. Psychologie an der Fernuni Hagen.