Öffentlicher Online Vortrag von Prof. Dr. Finzsch:
„Die frigide Neurotikerin“ Psychoanalyse und die weibliche Genitalverstümmelung
am DO 25. März um 19 Uhr
ZUM VORTRAG
Die Psychoanalyse hat durch die Behandlung der Hysterie, eines bis dahin vorwiegend als körperliches Leiden verstandenen Krankheit, selbst Impulse erfahren, die sie zu dem gemacht haben, was sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in vielen Nationen des Westens geworden ist: Die am meisten diskutierte Form der psychologischen Therapie. Peter Gay schrieb in seiner Freudbiographie: “Obwohl die Studien über Hysterie erst 1895 erschienen, geht der erste in diesem Band besprochene Fall, Breuers historische Begegnung mit ‚Anna O.‘, auf das Jahr 1880 zurück. Er gilt als der Fall, der die Psychoanalyse begründete […]“ Die Psychoanalyse erwarb sich in den USA ein Janusgesicht: Einerseits stellte sie eine vermarktungsfähige Ware dar, deren Konsumption einerseits Gebrauchswert hatte (Reduktion des individuellen Leidensdrucks) andererseits stellte sie ein soziales Disktinktionsmerkmal dar. Psychoanalyse wurde modern, ja sie errang in den 1950er und 1960er Jahre eine Vormachtstellung innerhalb der amerikanischen Psychotherapie. Mehr als die Hälfte der Psychiater*innen dieser Jahre hatten eine formelle Ausbildung als Analytiker*innen abgeschlossen oder bedienten sich psychoanalytischer Behandlungsmethoden. Die wichtigsten Psychiatrieabteilungen amerikanischer Universitäten hatten Analytiker als Institutsleiter. Um 1960 war fast jeder Psychiatrielehrstuhl in den Händen einer Analytiker*in.
Die Genitalverstümmelung (FGM/C) war eine in Europa und Nordamerika über 400 Jahre lang verbreitete Praxis. Frauen, die als „pervers“, sexuell deviant, hysterisch oder neurotisch diskriminiert wurden, fielen ihr zum Opfer. Im hier behandelten Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Psychoanalyse zu einer Abnahme der weiblichen Genitalverstümmelung (Kliteridektomie) im „Westen“ beigetragen oder ob sie diese Praxis zeitlich verlängert hat. Dies klingt wie ein Widerspruch. Er löst sich auf, wenn wir betrachten, wie die Psychoanalyse nach Freud durch die Erfindung des vaginalen Orgasmus und der Postulierung sexueller „Normalität“, die an diese Form des Orgasmus gebunden wurde, bestimmte Formen der FGM/C, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts angewendet wurden, legitimiert hat. Meine These lautet, dass die Psychoanalyse durch eine psychische Erklärung der Neurosen bzw. der Hysterie zunächst einmal geholfen hat, die Praxis der Kliteridektomie im „Westen“ einzudämmen, um in einem zweiten Schritt, in der Form der neo-freudianischen Verkürzung und Simplifizierung, zur Legitimierung der Klitorisresektion zum Zwecke der „Verbesserung“ weiblicher Sexualität beizutragen.
ZUR PERSON
Norbert Finzsch ist Professor Emeritus für Nordamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln. Er war Stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Washington DC, Professor für Neuere Geschichte in Hamburg (1992-2001) und Professor in Köln von 2001 bis 2016. Finzsch hatte Gastprofessuren in Berkeley, CA, Bordeaux und Canberra (Australien) inne. 2017 erhielt er den renommierten Meyer-Struckmann-Preis der Universität Düsseldorf für sein Lebenswerk. Im Wintersemester 2020/21 las er als Gastprofessor an der SFU Berlin die fächerübergreifende Vorlesung zur Kulturgeschichte der Psychoanalyse. 2021 erscheint sein neuestes Buch „Der Widerspenstigen Verstümmelung: Eine Geschichte der Kliteridektomie im ‚Westen‘“, 1500-2000. Bielefeld: Transcript, 2021.
ORGANISATORISCHES
Die Teilnahme ist kostenfrei, eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Der Vortrag mit anschliessender Diskussion wird per Zoom übertragen, ein vorheriger Download oder ein eigener Zoom Account ist nicht notwendig.
Online Vortrag I Prof. Dr. Finzsch: „Die frigide Neurotikerin“ Psychoanalyse und die weibliche Genitalverstümmelung
25 .März 2021 19 Uhr s.t.
Zoom Zugangslink
https://us02web.zoom.us/j/86245796267?pwd=NVJWUWNSczZJNG5zNjZQeG1pZnRnZz09
Meeting-ID: 862 4579 6267
Kenncode: 459041
Foto Header:
Abbildung aus Narjani, A. Considerations sur les causes anatomiques de frigidité chez la femme. Revue Médical de Bruxelles. 1924; 27:768-778.